Podcast mit Jocelyne Saucier: »Im Norden Kanadas wartete ein Roman auf mich«

Die Autorin Jocelyne Saucier lebt in einem kleinen kanadischen Dorf, 700 Kilometer nördlich von Montreal. Ist es dort so, wie wir uns das vorstellen: Einsamkeit, Blockhütten, Seen und Wälder? Ganz so sei das nicht, sagt Jocelyne Saucier, als wir sie für ein ausführliches Podcast-Gespräch daheim anrufen. Zwar gäbe es dort eine Menge Seen, Wälder und Flüsse, aber natürlich gäbe es auch Städte, Dörfer, ein kulturelles Leben – und Buchhandlungen. Dennoch leben in der Region, die halb so groß ist wie Deutschland, im Schnitt nur 2 Menschen auf einem Quadratkilometer. Mit ihren Roman »Ein Leben mehr« wurde Jocelyne Saucier auch in Deutschland bekannt (siehe Buchbesprechung im literaturcafe.de). Im September 2020 ist ihr neuestes Werk »Was dir bleibt« nahezu zeitgleich im kanadisch-französischen Original und auf Deutsch erschienen, übersetzt von Sonja Finck und Frank Weigand. Im Originaltitel »À Train perdu« schwingt mehr vom Inhalt mit, wenngleich er sich in seiner Mehrdeutigkeit und Andeutung nicht übertragen lässt. »Im Zug verloren« klingt seltsam, und im Französischen kann man sogar einen Anklang an Proust verlorener Zeit heraushören (»À la recherche du temps perdu«). Thematisch und in der Form nimmt »Was dir bleibt« Vieles auf, was sich schon in »Ein Leben mehr« findet. Gladys besteigt einen Zug und kehrt nie zurück Die Hauptperson Gladys Comeau ist 76 Jahre alt. Nach dem frühen Tod ihres Mannes – der Bergarbeiter starb bei einem Grubenunglück – lebt sie in einer kleinen Siedlung in den nördlichen Wäldern Ontarios, an der Grenze zu Québec. Ihre Tochter, die nun über 50 Jahre alt ist, lebt bei ihr. Bereits in jungen Jahren unternahm Lisana einen Suizidversuch. Sie ist depressiv und scheint allein nicht lebensfähig. Und dennoch verlässt Gladys eines Tages plötzlich ihre Tochter und ihr Leben. Ohne Koffer und scheinbar unvorbereitet besteigt sie den Northlander-Zug und ist verschwunden. Selbst ihre Tochter, die die Nachbarn am Küchentisch sitzend vorfinden, weiß nicht, wohin Gladys will und warum sie weg ist. Saucier lässt die Geschichte und die Fahrt Gladys‘ von vielen Stimmen erzählen. Jahre später reist ein jüngerer Mann ihre Route nach. Er spricht mit Zugbegleitern und Menschen, die Gladys begegnet sind. Es ist der Kniff dieser Erzählweise, dass wir nur durch Dritte und nie von Gladys selbst ihre (möglichen) Motive erfahren. In »Was dir bleibt« bleibt somit auch viel den Gedanken von Leserinnen und Lesern überlassen. Zudem hat Jocelyne Saucier für ihren Roman die Geschichte der »School Trains« wiederentdeckt. Es waren als Klassenzimmer umgebaute Eisenbahnwaggons, die in die entlegenen Gegenden des kanadischen Nordens fuhren, dort für einige Tage abgestellt wurden, um so den Kindern in entlegenen Gebieten eine schulische Bildung zu ermöglichen. Von 1926-1967 waren diese »School Trains« im Einsatz, und Jocelyne Saucier erzählt, dass die Geschichte dieser Züge selbst in Kanada vergessen ist. Schon bei der Recherche zu »Ein Leben mehr« sei sie jedoch Menschen begegnet, die einst in diesen Klassenzimmerwaggons unterrichtet wurden. Jocelyne Saucier reiste selbst mit Zügen in den Norden Kanadas. »There was a novel for me waiting there«, so beschreibt sie selbst ihr Gefühl, dass dort ein Roman auf sie wartete, der geschrieben werden wollte. Jocelyne Saucier gibt im Gespräch interessante Einblicke in die Entstehung des Romans. Das ist es auch, was kanadische Leserinnen und Leser interessiert, denn Lesungen und Lesereisen wie hierzulande kennt man dort nicht. Saucier, Jocelyne; Finck, Sonja (Übersetzer): Was dir bleibt: Roman. Gebundene Ausgabe. 2020. Insel Verlag. ISBN/EAN: 9783458178781.

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